Hier mal ein Beispiel, wie flexiblel der amerikanische Arbeitsmarkt ist:
Denise, die fuer die Firma arbeitet, die die Labels fuer unsere Produkte herstellt, hat gestern morgen gesagt bekommen: "Your position is no longer needed and we will let you go on Friday".
Sie ist Mitte 50 und hat 25 Jahre fuer diese Firma gearbeitet.
Jetzt darf sie mit Mitte 50 eine ganz neue Karriere starten. Ist doch toll, oder?
Na, da freut die sich doch sicher, jetzt kann sie sich endlich so richtig verwirklichen. Vielleicht sogar noch ein neues Studium beginnen und sich bis über beide Ohren verschulden. Herrlich!
Ich kann mal sagen, wie es hier in meinem Leben läuft: Ich habe BWL studiert, Schwerpunkt Rechnungswesen. Während des Studiums war ich Werkstudent in einem großen Versicherungskonzern in Köln in der Abteilung Grundsatzfragen, Rechnungslegung und Steuern. Das war ganz angenehm, da sie mich nach meinem Studium direkt übernahmen und ich nicht den Umweg über ein Wirtschaftsprüfungsunternehmen gehen musste, um da wieder reinzukommen. Jetzt bin ich seit 2 Jahren im Bereich Rechnungslegung tätig. Hauptsächlich wird nach IFRS bilanziert. Wenn ich den Arbeitgeber wechseln will und bei einer anderen Versicherung oder auch Bank im Bereich Rechnungslegung arbeiten möchte - kein Problem. Wenn ich zu einem mittelständischen Unternehmen wechseln möchte, auch noch im Bereich Rechnungslegung, wird es schon schwieriger, denn da ist eher HGB als IFRS gefragt und dann kämen schon die Fragen, warum will der Typ wechseln, da kann ja irgendetwas nicht stimmen. Kurz, das wäre schon schwer.
Dass das "schwer" wäre, ist doch rein hypothetisch. Und wenn Du zwei Jahre nach Arbeitsaufnahme schon von Dir selber glaubst, dass Du derart festgefahren bist, dass Du nicht glaubhaft begründen könntest, dass Du Dich umstellen könntest, dann liegt das
nicht an der angeblich mangelnden Flexibilität der Unternehmen, mein Lieber, sondern an Deiner höchsteigenen begrenzten Flexibilität.
Ich hab' Dir ja nun auch schon aufgelistet, in welchen Bereichen ich in Deutschland gearbeitet habe. Ohne einschlägige Abschlüsse. Das dürfte Deinen Vorstellungen zufolge gar nicht möglich gewesen sein. War es aber. Ist es immer noch.
Wenn ich aber überhaupt keine Lust mehr auf Rechnungslegung habe und was ganz anderes machen möchte, kann ich das in Deutschland weitgehend vergessen. Denn mein Lebenslauf ist nur schlüssig in Bereich Rechnungslegung erklärbar.
Unfug.
Quereinstieg in andere Branchen und Bereiche ist in Deutschland eher nicht gerne gesehen.
Grober Unfug.
Prima Beispiel ist mein geschätzter Sportjournalistenkollege X, der u.a. als einer der anerkanntesten Fußballstatistiker Deutschlands gilt, und der für alle möglichen Publikationen arbeitet und auch in Festanstellung gearbeitet hat (auch für den DFB). Weißt Du, was der studiert hat? Sportwissenschaften womöglich? Journalismus oder Kommunikation? Ach wo. Der ist Historiker.
Du machst es Dir eigentlich sehr einfach; Du baust Dir im Kopf alle möglichen Mäuerchen auf, die es Dir unmöglich machen, ein wenig über den Tellerrand zu linsen, und suhlst Dich dann im Selbstmitleid über all die Chancen,d ie man Dir partout nicht geben möchte. (Wie auch, wenn Du Dich um diese Chacnen nicht mal bemühst.) Und dann polierst Du Deine rosarote USA-Brille. Das kann man natürlich machen, wenn man das möchte, aber mir wäre das viel zu einseitig.
Da wird sofort vermutet, dass man das, was man macht nicht kann und die Absage läuft dann nach 08/15.
Unfug. Wäre dem so, hätte ich als Bauzeichnerin wohl kaum im Marketing eines Radiosenders gearbeitet und deren Promotionsteam aufgebaut oder als Sportredakteurin in Europas größtem Zeitungsverlag gearbeitet oder die Public-Relations-Abteilung eines Profiteams geführt.
Ist in meiner Abteilung nicht anders. Alle Personen die hier arbeiten, haben einen ähnlichen Hintergrund wie ich, der größte Unterschied: Viele waren noch in einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft tätig, bevor sie zu uns kamen. Da wirbt mein Arbeitgeber ja auch bevorzugt Leute ab, die hier von solchen Gesellschaften eingesetzt werden. Das heißt, wir sind hier eine vom Werdegang ziemlich ähnliche Gesellschaft. Das ist in anderen Abteilungen nicht anders.
Und warum schließt Du von einem einzigen Unternehmen aufs Ganze?
Klar habe ich auch Bewerbungen abgeschickt, die direkt durch die Schema-F-Raster gepurzelt sind, weil ich keinerlei Studienabschluss, Volontariat oder sonstiges vorweisen konnte. Und soll ich Dir 'was sagen? Für solche festgefahrenen Unternehmen, die gerne nach außen hin proklamieren, dass sie "Querdenkern" eine Chance geben wollen, die tatsächlich aber Angst haben vor Querdenkern und die von den trockenene Ärschen schließlich den allertrockensten anheuern, würde ich überhaupt nicht arbeiten wollen. So eine Unternehmens"kultur" wäre mir komplett zuwider, und die verdienen meine Kreativität und mein Können und meine Leistungsbereitschaft überhaupt nicht. Deswegen haben mich Absagen, aus denen hervorging, dass ich wegen meines unkonventionellen Lebenslaufs schon mal nicht in Frage käme, auch nie gejuckt. (Zumal ich nie Probleme hatte, gute Stellen und gute Projekte zu finden.)
Und jetzt vergleiche ich das mit Freunden und Bekannten aus den USA. Da studierte ein Freund mit mir zusammen. Der ging zuerst in eine Immobiliengesellschaft und wechselte dann zu LinkedIn und macht da was komplett anderes. Sein Büro bei der Immobiliengesellschaft in SF bot, neben vielen anderen, eine Art Hobbyraum, mit Schlafmöglichkeit. Jetzt bei LinkedIn ist es natürlich lockerer als in einer Versicherung, aber wenn schon etwas staubtrockenes wie eine Immobiliengesellschaft wesentlich lockerer war, wundert das nicht.
In vielen mag es in Deutschland besser sein, aber im Bereich Selbstverwirklichung nicht. Da kann man die einmal eingeschlagene Richtung nur noch schwer ändern. Leider. Quereinstieg in andere Bereich ist dann nicht mehr vorgesehen.
Na, vergleich Dich doch mal mit meiner Freundin Y. Die ist Mitte 50, war früher mal Abteilungsleiterin bei Kroger's, wurde dann aber zu teuer und wegrationalisiert. Sie arbeitet seit sechs Jahren in Vollzeit als Ticketverkäuferin am Theater. Außerdem arbeitet sie Teilzeit (ca. 20 Stunden/Woche) als Ticketverkäuferin beim Orchester. Außerdem hat sie ein kleines Unternehmchen, das Druckertinte vertreibt. Meine Freundin ist eine absolut brillante Kundendienstlerin und Verkäuferin, die Eskimos Kühlschränke verkaufen könnte. Sie schafft jede Woche ca. 70 bis 80 Stunden, als alleinerziehende Mutter übrigens, und der wunderbare Kindsvater steuert nichts bei. Auch sehr USA-üblich, nebenbei bemerkt. Mit ihrer 70-bis 80-Stundenwoche verdient sie netto weniger als $25k/Jahr. Sie ist über ihren Vollzeitarbeitgeber krankenversichert, aber die Versicherungsdeckung ist derart beschissen, dass es sich wegen des hohen Selbstbehaltes nicht leisten kann, zum Arzt zu gehen. Sie ist wegen des Stresses und wegen ihrer sitzenden Tätigkeit morbid adipös, hat wahrscheinlich Diabetes und kann es sich, ich sag' es noch einmal, nicht leisten, zum Arzt zu gehen - trotz Versicherung. Ihre Tochter musste vor einiger Zeit in die Notaufnahme; Notaufnahme ist in der Versicherung nicht abgedeckt. Kosten für drei Stunden Notaufnahme: $18.000. Die muss meine Freundin irgendwie aufbringen, kann sie aber nicht, es reicht ja so schon von vorn bis hinten nicht. Theoretisch stehen ihr pro Jahr zwei Wochen Urlaub bei ihrem Vollzeitarbeitgeber zu. In den fünf Jahren, die ich sie kenne, hat sie eine Woche freigenommen, und das auch nur sehr schweren Herzens, und auch nur, um ihren vermutlich nicht mehr lange lebenden, schwer kranken Vater noch einmal sehen zu können. Vorigen Winter hatte ich einen Spendenaufruf für sie gestartet und $5000 für sie gesammelt, damit sie und ihre Tochter ENDLICH mal zum Arzt gehen können.
Aber, hey, die kann sich sicher total toll selbst verwirklichen! Dass sie jede Woche mehrmals einfach so in Tränen ausbricht, weil sie total am Ende ist, zählt ja nicht. Hauptsache Selbstverwirklichung...
Wenn ich dich richtig verstanden habe, hast du ein abgeschlossenes BWL Studium und hast 2 Jahre im Bereich Rechnungslegung gearbeitet und jetzt meinst du, dass du das fuer immer machen musst und keine andere Chance mehr in Deutschland hast?
Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.Immer dran denken, nur weil man mal gehoert hat, das etwas nicht geht, heisst das nicht, dass es auch wirklich nicht geht. Hast du es denn mal selbst richtig versucht?
Ausserdem gibt es ja auch immer Weiterbildungsmoeglichkeiten, die man wahrnehmen kann, um sich andere Arbeitsgebiete zu eroeffnen.
Wenn du jetzt seit 20 Jahren in der Rechnungslegung mit deinem Programm arbeiten wuerdest, dann koennte ich mir vorstellen, dass dein Lebenslauf dich da auf etwas festlegen wuerde, aber du bist gerade mal 2 Jahre im Berufsleben, da baut man sich doch seinen Lebenslauf gerade erst auf und da ist es auch ganz normal, dass man nicht immer in derselben Abeteilung oder im selben Arbeitsgebiet arbeiten moechte.
Es ist ja auch nicht alles schlecht, aber wenn ich das immer hoere, ich mag die Mentalitaet der Amerikaner, das Arbeitsleben ist viel besser, man hat mehr Moeglichkeiten...
Das ist so alles nicht wahr.
Klar, wenn man eine gottesfuerchtige, spiessige und kleinbuergerliche Mentalitaet gut findet, ist man hier schon mal richtig. Das sind hier gefuehlte 50 % der Menschen oder sogar mehr (wie gesagt, no statistics, just my feelings).
In Deutschland gibt es genausoviele coole Menschen mit einer tollen Lebenseinstellung wie in Amerika. Und die, die in Amerika bleiben und "es geschafft" haben den amerikanischen Traum zu leben, die haetten es auch woanders geschafft, z.B. in Deutschland oder wer weiss wo.
Diejenigen, die vor ihren Problemen fliehen, die schaffen es meistens nirgendwo, denn die Probleme kommen immer mit, denn sie liegen in einem selbst.
So sieht es nämlich aus, so und nicht anders.