Mal wieder ein Artikel, den ich lesenswert fand...
Quelle: Helikopter-Eltern: Das Problem mit den überbehüteten Kindern - WELT HD
Das Problem mit den überbehüteten Kindern
Clemens Wergin, Washington
Unsere erste Begegnung mit dem amerikanischen Nanny-Staat hatten wir in diesem Sommer. Wir waren gerade erst nach Amerika gezogen in ein beschauliches Wohnviertel am Rande Washingtons. Es war unser erster Besuch im Schwimmbad um die Ecke. Ich hatte kaum meine ersten Bahnen geschwommen, da kamen unsere Töchter (damals acht und zehn) zu mir gelaufen, mit heller Empörung im Gesicht.
"Wir mussten aus dem Wasser, weil Kinder jetzt nicht mehr schwimmen dürfen", sagten sie. Alle Pools seien für Kinder gesperrt. Ich vermutete erst ein Missverständnis und ging zum Bademeister. Doch der bestätigte: Der Bezirk Montgomery hier in Maryland schreibt vor, dass Kinder eine Viertelstunde pro Stunde aussetzen müssen, weil sie selbst schwer einschätzen könnten, wann sie zu lange im Wasser sind. Offenbar traut der County Eltern auch nicht zu, selbst zu entscheiden, was gut für die eigenen Kinder ist.
Wir hatten eigentlich gedacht, ins Land der Freiheit gezogen zu sein. Doch beim Thema Kinder hört diese Freiheit schnell auf. Nicht nur von Staatswegen, sondern auch kulturell. In Berlin hatten wir versucht, unsere Kinder zur Selbstständigkeit zu erziehen und sie früh ermuntert, Dinge auch allein zu tun.
In unserem amerikanischen Suburbia sind wir damit krasse Außenseiter. Man sieht Kinder hier eigentlich nie auf der Straße spielen. Kindheit spielt sich weitgehend in der Schule, zu Hause und im geschützten Verein ab – und im Auto dazwischen. Immer überwacht von Eltern, Lehrern, Nannys oder Trainern.
Kinder allein unterwegs? Ein Fall für die Polizei
Die meisten Nachbarskinder sieht man höchstens mal, wenn sie mit Hockey- oder Footballtasche aus dem Auto steigen und ins Haus laufen. Laut einer empirischen Studie der Universität von Kalifornien verbringen Kinder von Mittelschichtsfamilien in Los Angeles inzwischen 90 Prozent ihrer Freizeit zu Hause vor dem Fernseher, dem Computer oder mit Videospielen. Hier an der Ostküste wird das nicht anders sein. Als an Halloween unser ganzes Viertel abends auf den Beinen war, haben wir gestaunt, wie viele Kinder hier leben. Die meisten hatten wir noch nie gesehen.
Unsere Mädchen sind inzwischen im Viertel als "the German girls" bekannt, weil sie auch mal alleine durch die Gegend stromern oder ohne Erwachsene in den nahe gelegenen Park gehen, was amerikanische Eltern irgendwie exotisch finden. Doch das kann einem schnell Ärger mit der Polizei einhandeln, wie eine Familie aus dem benachbarten Silver Spring erleben musste.
Danielle und Alexander Meitiv versuchen, ihre Kinder im Alter von sechs und zehn Jahren zur Eigenverantwortung zu erziehen. Kurz vor Weihnachten haben sie ihnen erlaubt, alleine anderthalb Kilometer von einem Park nach Hause zu gehen. Keine Chance. Auf halber Wegstrecke wurden die Kinder von der Polizei aufgegriffen, nachdem besorgte Bürger angerufen hatten.
Seitdem bekommt Familie Meitiv ständig Besuch von Polizisten und Sozialarbeitern. Die Eltern müssen sich wehren gegen den Vorwurf, ihre Kinder vernachlässigt zu haben, und sich aufklären lassen über die Gefahren, die da draußen lauern. Die Behörden haben die Kinder gar ohne Einwilligung der Eltern in der Schule befragt. "Tatsächlich ist die Welt heute sogar noch sicherer als zu der Zeit, als ich ein Kind war", sagte Danielle Meitiv der "Washington Post", die als erste über den Fall berichtet hatte. "Ich möchte ihnen nur dieselbe Freiheit und Unabhängigkeit geben, die ich als Kind einst hatte – im Grunde eine altmodische Kindheit."
Der Fall hat eine Debatte ausgelöst, ob Amerika es mit der "Helikopter-Elternschaft" nicht übertrieben hat. "Wir sind eine hysterische Kultur geworden", sagt Lenore Skenazy. Sie hat vor sechs Jahren die "Free Range Kids"-Bewegung gegründet, nachdem ihr etwas Ähnliches passiert war wie den Meitivs. Sie hatte ihrem damals neunjährigen Sohn erlaubt, in New York allein mit der U-Bahn zu fahren.
Nachdem die Journalistin in einer Kolumne über dieses Experiment in Selbstständigkeit berichtet hatte, brach ein Sturm der Entrüstung über ihr los. Sie musste im Fernsehen mit ihrem Sohn Rede und Antwort stehen und sich von einer Psychologin tadeln lassen. Andere Sender, vom konservativen Fox-News bis zum links-liberalen öffentlichen Rundfunk NPR, bezeichneten sie als "schlimmste Mutter Amerikas". Seitdem schreibt Skenazy in ihrem Blog gegen die Entmündigung von Kindern an und ermuntert Eltern, ihnen mehr Freiraum zu geben.
Die Angst vor plötzlichem Kindstod
Skenazy macht nicht so sehr die Eltern für die überbehütete Kindheit verantwortlich. "Ich gebe die Schuld der ganzen Kultur, die immer, wenn irgendwo irgendetwas passiert, sofort die Eltern verantwortlich macht", sagt Skenazy im Gespräch mit der "Welt". Den Eltern werde eingeredet, sie müssten ihre Kinder lückenlos überwachen. Und die Industrie bringt ständig neue Überwachungsgadgets auf den Markt.
Das fängt an mit Geräten, die bei Neugeborenen Herzschlag, Puls, Blutdruck und Atemfrequenz messen – was den Eltern selbst bei ganz gesunden Kindern als Standard ans Herz gelegt wird – bis zu Handys, die sofort auf Außenmikrofon umschalten, wenn ältere Kinder in der Schule oder auf dem Sportplatz nicht innerhalb von zehn Sekunden auf einen Anruf reagieren. "Das ist inzwischen eine regelrechte Angst-Industrie geworden", sagt Skenazy. "Immer sofort das Schlimmste anzunehmen nimmt den Kindern ihre Kindheit."
Angst ist das beherrschende Gefühl, das amerikanische Eltern dazu bewegt, ihre Kinder nie unbeaufsichtigt zu lassen. Damit verwehren sie ihnen aber auch eine freie Kindheit, wie sie sie selbst einst genossen haben. Jeffrey Dill hat mit einer Gruppe von Wissenschaftlern für ein Projekt der Universität von Virginia Interviews mit 100 Eltern im ganzen Land geführt, um Einblicke in die amerikanische Familie zu bekommen. "Fast alle Befragten erinnern sich an eine Kindheit mit fast unbegrenzter Freiheit, als sie Fahrrad fahren oder durch Wälder, Straßen und Parks streifen konnten, unbeobachtet von ihren Eltern", schreibt Dill.
Eine Freiheit, die sie ihren eigenen Kindern heute meist verweigern. Ein Vater etwa erinnerte sich daran, dass er selbst als Kind "von morgens bis zur Abenddämmerung fort von zu Hause" gewesen sei. Auf seine achtjährige Tochter angesprochen sagt er, er würde das bei ihr nie zulassen. "Das ist anders. Sie ist nie allein vor dem Haus." Ein anderer Vater erinnert sich, dass er als Kind den ganzen Tag unterwegs und "gerade rechtzeitig zum Abendessen" zurück war. "Ich kann mir das heute nicht vorstellen. Ich kann mir nicht vorstellen, meine Kinder jemals alleine herumlaufen zu lassen."
Jedes verschwundene Kind wird zur großen Mediensache
Es ist die Urangst vor der Entführung des eigenen Kindes, die Amerika umtreibt. Und man kann ungefähr sagen, wann der Trend zu den Eltern-als-Sicherheitsfanatikern begonnen hat. Es war im Jahr 1979, als der sechsjährige Etan Patz auf dem Weg zur Schulbushaltestelle in New York verschwand, eine Tragödie, die ganz Amerika vor den Fernsehbildschirmen verfolgte. Seitdem wird jedes verschwundene Kind zu einer großen Mediensache. "Man hört von diesen furchtbaren Geschichten, über das, was Kindern passiert ist", sagt einer der von Dill befragten Mütter. "Diese Dinge jagen Eltern wirklich einen Schrecken ein und sie beeinflussen definitiv, wie viel Freiheit du deinem Kind gibst."
Das ist genau das, was wir auch von unseren Nachbarn hören. Theoretisch möchten sie ihre Kinder zur Selbstständigkeit erziehen, aber in konkreten Situation überwiegt stets das Prinzip "better safe than sorry", zu Deutsch ungefähr: lieber einmal zu viel beschützt als einmal zu wenig.
Tatsächlich klaffen Wahrnehmung und Realität weit auseinander. Die Kriminalitätsrate ist in den USA in den vergangenen Jahrzehnten rapide gesunken und mit ihr auch die Fälle von Gewalt gegen Kinder. Auch die Zahl von Kindesentführungen durch Unbekannte sind zurückgegangen.
Zumal die Zahlen des FBI bei diesem Thema irreführend sind, weil sie nicht unterscheiden zwischen Entführungen durch Fremde und den durch die seit den 70ern angestiegene Scheidungsrate viel häufigeren Entführungen im Familienkreis, wenn Eltern sich getrennt haben. Amerika ist heute sicherer für Kinder als in den 70ern. Und doch haben Eltern das Gefühl, ihre Kleinen seien sehr viel gefährdeter, als sie selbst es einst waren.
Umerziehung von gluckenden Eltern im Reality-TV
Leonore Skenazy hält deshalb inzwischen im ganzen Land Vorträge, um Eltern zu ermutigen, mehr loszulassen. Und am vergangenen Freitag startete ihre Reality-Show "The World's Worst Mom" auf dem Discovery Life Channel. Die Show folgt dem Vorbild der "Super-Nanny". Tatsächlich geht es jedoch um das Gegenteil: Nicht um mehr Erziehung, sondern darum, gluckende Eltern zu überzeugen, ihren Kindern die Erfahrung von Selbstständigkeit zu ermöglichen.
Der Trailer der Sendung ist inzwischen zu einem Witz in unserer Familie geworden. Man sieht darin, wie ein neunjähriger Junge die Versuche der Mutter abwehrt, ihn am Essenstisch zu füttern, und dann endlich lernt, Fahrrad zu fahren. Oder sollte man eher sagen: wie eine Mutter versucht zu verhindern, dass ihr Sohn Fahrradfahren lernt. Sie ist jedenfalls kaum davon zu überzeugen, das Gefährt endlich mal loszulassen, damit der Junge es allein ausprobieren kann, und versucht sogar, ihm Angst vor dem Hinfallen einzuflößen.
"Ich habe für die Show mit vielen Eltern gearbeitet, bei denen man das Gefühl hatte, sie wollten, dass ihre Kinder Kinder bleiben", sagt Skenazy. Die Kinder sollten am liebsten gar nicht erwachsen werden. "Das Coole ist aber, wenn die Kinder dann zurückkommen und aufrecht gehen, stolz sind oder einfach Spaß hatten."
Immer wieder schaltet sich der Staat ein
In den vergangenen Jahren sind in den USA einige Bücher erschienen, die sich gegen den Kontrollwahn wehren, und es gibt immer wieder Eltern, die sich für mehr Freiheit entscheiden. Es gibt auch wieder einige Abenteuerspielplätze im Land. Aber die Regel ist immer noch, dass als schlechter Vater oder Mutter gilt, wer seine Kinder nicht ständig überwacht oder zulässt, dass die Kleinen Risiken eingehen, um sich auszuprobieren. Und immer wieder schaltet sich der Staat ein.
Skenazy hat unzählige Beispiele parat, die Eltern ihr in Briefen schildern. "Eine Mutter schrieb mir, dass die Polizei sie besucht hat, weil sie ihr zehnjähriges Kind barfuß auf der Straße spielen ließ", berichtet Skenazy. Im Sommer wurde in South Carolina eine Mutter festgenommen und über Nacht ins Gefängnis gesteckt, weil sie ihre neunjährige Tochter allein in einem beliebten Park spielen ließ. Das Kind kam danach 17 Tage lang in staatliche Obhut. In Austin, Texas, bekam eine Mutter Besuch von Polizei und Jugendamt, weil sie ihr sechsjähriges Kind in Sichtweite vor dem Haus spielen ließ. Und das sind nur einige Beispiele.
Selbst wenn Eltern also versuchen, sich der gesellschaftlichen Norm zu entziehen und den Kindern mehr Entwicklungsraum zu geben, müssen sie fürchten, in Konflikt mit dem Staat zu geraten. Und das kann weit traumatischere Folgen haben als in einem unbeachteten Moment von einem Klettergerüst zu fallen, wenn das Kind der Familie vom Jugendamt entzogen wird, um dem Vorwurf der Vernachlässigung nachzugehen. "Ich möchte nicht, dass die Regierung sich wie eine Schwiegermutter benimmt", sagt Skenazy.
Aber Polizei, Jugendamt und die jeweiligen Communities sind mental darauf getrimmt, jegliche verdächtig wirkende Abweichung von der Norm und Anzeichen von Vernachlässigung von Kindern nachzugehen. Und diese Schicksale gibt es ja tatsächlich, vor allem in den Unterschichtvierteln, wo wirtschaftliche Armut und oft zerrüttete Familienverhältnisse dazu führen, dass Kinder in prekären Verhältnissen aufwachsen.
Bevormundung hat schwerwiegende psychologische Folgen
"In den vergangenen 60 Jahren haben wir in unserer Kultur einen graduellen, anhaltenden, aber letztlich dramatischen Rückgang der Gelegenheiten erlebt, bei denen Kinder frei spielen können ohne Kontrolle der Eltern, und einen Rückgang der Möglichkeiten, riskante Spiele zu spielen", meint Peter Gray, Psychologieprofessor am Boston College. "In denselben 60 Jahren haben wir gleichzeitig ein graduelles, anhaltendes und letztlich dramatisches Anwachsen von aller Art mentaler Störungen erlebt, vor allem emotionaler Störungen."
Das Ergebnis sei eine deutliche Zunahme von Depressionen und Narzissmus bei jungen Erwachsenen und eine Abnahme von emotionalem Einfühlungsvermögen. In seinen Artikel und Büchern und auf seinem Blog "Free to Learn" wirbt Gray deshalb dafür, den Kindern wieder den Freiraum zu geben, sich selbst bei riskanten Spielen auszuprobieren, und ihnen so zu ermöglichen, fürs Leben zu lernen.
Es ist aber nicht allein die psychische Gesundheit der Kinder, die leidet. In einer Studie von 2011 hat der Entwicklungspsychologe Kyung-Hee Kim Kreativitätstests der letzten Jahrzehnte ausgewertet und hat dabei einen beunruhigenden Trend festgestellt: Seit 1984 weisen alle wichtigen Parameter in Amerika nach unten.
In seinem wissenschaftlichen Artikel "The Creativity Crisis" schreibt Kim, die Daten würden belegen, dass "Kinder über weniger emotionale Ausdrucksfähigkeit verfügen, weniger energiegeladen sind, weniger redselig und sich in Worten schlechter ausdrücken können, weniger Humor haben, weniger Vorstellungskraft, weniger unkonventionell, weniger lebendig und leidenschaftlich sind, ihre Umwelt weniger wahrnehmen und weniger in der Lage, scheinbar unzusammenhängende Dinge in ein Verhältnis zu setzen, weniger integrierendes Denken aufweisen und seltener Dinge auch aus einer anderen Perspektive betrachten".
"Koalition zur Stärkung der Kinder"
Psychologieprofessor Gray führt das vor allem darauf zurück, dass amerikanische Kinder sich fast nur noch in einem Rahmen bewegen, der von Erwachsenen kontrolliert ist, die ihnen sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Das freie, unkontrollierte Spielen unter Kindern sei ein wichtiger Bestandteil des Erwachsenwerdens, für das es kaum noch Raum gebe.
Mit anderen Kindern alleine draußen zu spielen und dabei Grenzen auszutesten und auch Risiken einzugehen, helfe den Kindern nicht nur, motorische Fähigkeiten zu entwickeln, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und soziale Fähigkeiten zu trainieren, so Gray, "es lehrt auch, intensive negative Gefühle in den Griff zu bekommen wie etwa Angst oder Wut".
Die staatlichen Ermittlungen gegen die Familie Meitiv gehen derweil weiter. Laut Gesetz in Maryland dürfen Kinder unter acht Jahren in geschlossenen Räumen nur dann allein gelassen werden, wenn ein mindestens 13-jähriges anderes Kind dabei ist. Das Jugendamt ist der Meinung, dass das auch für den öffentlichen Raum gilt und ermittelt weiter wegen Kindesvernachlässigung.
Manche Eltern wollen sich diese staatliche Einschüchterung aber nicht mehr gefallen lassen. "Wir haben inzwischen mehr Angst davor, dass irgendwer die Polizei zu uns holt, als Angst davor, dass unseren Kindern etwas passieren könnte", sagt Russell Max Simon aus Silver Spring. Er hat deshalb aus Solidarität mit den Meitivs zusammen mit anderen Eltern die Maryland-Koalition zur Stärkung der Kinder gegründet. Sie wollen mehr Freiraum für Eltern erkämpfen, um ihre Kinder zu selbstständigen Erwachsenen erziehen zu können. Immerhin ein Anfang.
Quelle: Helikopter-Eltern: Das Problem mit den überbehüteten Kindern - WELT HD